Zeitgenössische Kunst im Dorfladen
Main-Echo Pressespiegel

Zeitgenössische Kunst im Dorfladen

Kultur: Der Wiesener Kunstverein verlegt seine Sommerausstellung in Geschäfte, Vitrinen und ins Rathaus - Auch der Skulpturenweg wurde erweitert
WIESEN  Von un­se­rem Re­dak­teur ALEX­AN­DER BRUCH­LOS An­ja Pist­ner blickt ein we­nig skep­tisch auf die glän­zen­den Ke­ra­mik­schne­cken, die seit ei­ni­gen Ta­gen die Wurs­taus­la­ge des Wie­se­ner Dor­f­la­dens be­völ­kern. Beim Be­die­nen müs­se man nun noch et­was mehr auf­pas­sen als sonst, sagt die Dor­f­la­den-Mit­ar­bei­te­rin. Denn die zerbrechlichen glasierten Tier-Figuren der jungen Künstlerin Dominika Bednarsky, die sich zwischen Wurst-Konserven und Aufschnitt tummeln, seien hochwertige Arbeiten.
Bei der Frage, was sie von der Schneckengesellschaft hält, muss Anja Pistner schmunzeln. Kunst sei halt mehr als ein Bild an der Wand oder eine Skulptur auf dem Sockel, so die Wiesenerin.
Teil der Sommerausstellung
Dominika Bednarskys Arbeit »Snails« im Dorfladen ist Teil der Sommerausstellung »Nicht Fisch, nicht Fleisch« des Wiesener Kunstvereins. Erstmals begibt sich der Verein mit der Schau der 1994 geborenen Studentin an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung (HfG) aus den Mauern des Schlosses heraus, erläutert Kunstvereins-Vorsitzender Friedrich Gräfling. Die Ausstellung sei zugleich eine zeitlich begrenzte Erweiterung des Wiesener Kulturwegs mit seinen nun fünf festen Stationen. Bis zum 26. September sind Bednarskys Skulpturen in Geschäften und Vitrinen aber auch im Büro des Wiesener Bürgermeisters zu sehen. Auch Corona sei ein Grund für die Verlagerung der Ausstellung in den öffentlichen Raum, sagt Gräfling. Viele der Ausstellungsorte sind von außen einsehbar.
Hintersinnig ist auch die Platzierung der Keramik-Plastiken. Nicht nur die Schnecken-Bande im Dorfladen sorgt für kleine Irritationen im Dorfalltag.
Lodernder Kunst-Rasen
Die feingliedrigen, züngelnden Grashalme in der mehrteiligen »Rasen«-Installation im Schaufenster eines Fachgeschäfts für Mobil-Elektronik in der Hauptstraße 28 erinnern an einen lodernden Flächenbrand. Eine getöpferte Spargel-Stange in der Vitrine des Raucherclubs macht deutlich, wie sehr das Stangengemüse einer gedrehten Zigarre ähnelt.
Visuelle Parallelen werden auch im Schaufenster der Bäckerei Büdel einige Häuser weiter ausgelotet: Die dort zwischen Broten und Brötchen drapierten Keramik-Sportbälle wirken wie eine schlüssige Erweiterung der Backwaren-Auslage.
Beim Dorfmetzger ist trotz der aktuellen Straßenbaustelle vor der Haustür um die Mittagszeit viel los. Vor allem Handwerker nutzen die Mittagszeit, sich mit einer warmen Vesper einzudecken. Im Geschäft, gegenüber der Wurstauslage, thront auf einem Regal mit Tagesangeboten Bednarskys blutig-verschrammte Schweinekopf-Skulptur, die von einer Ananas gekrönt wird.
Nicht ganz so einfach ist es, einen Blick auf den mit Keramikwürsten umrankten »Männerblumenstrauß« zu erlangen. Die Skulptur auf dem Schreibtisch von Bürgermeister Willi Fleckenstein im Rathaus kann nur während der Sprechstunden des Rathaus-Chefs besucht werden. Ein Ersatz ist die »Snap Competition«, der frei einsehbare Strauß fleischfressender Pflanzen und Insekten im Schaufenster der Lotto-Annahmestelle in der Hauptstraße. Neben der Sommerausstellung hat der Wiesener Kunstverein auch seine dauerhaften Skulpturenweg-Stationen erweitert: Es sind zwei Arbeiten, die zuletzt auf internationalen Ausstellungen zu sehen waren, und die nun einen festen Platz im Spessart bekommen, erläutert Gräfling. Michel Sailstorfers Installation »Wohnen mit Verkehrsanbindung« kann, da sie auf einem Privatgrundstück steht, nur von der Straße aus besichtigt werden. Sie besteht aus einem Wartehäuschen mit Haltestellenschild abseits jeglicher Busrouten in der Wiesener Dr.-Frank-Straße. Das Tiny House der besonderen Art ist angeblich mit Bett, Küche, Tisch, Stuhl, Toilette und Lampe ausgestattet und lässt sich durchaus als ironisch-kritischer Kommentar zur ÖPNV-Anbindung des ländlichen Raums lesen.
Stammgast beim Kunstverein
Mit Sailstorfer ist der Wiesener Kunstverein schon lange verbunden. Wiederholt war der bayerische Bildhauer und Installationskünstler in Ausstellungen im örtlichen Schloss zu Gast. 2015 sorgte Sailstorfer mit der Performance »Tränen« für Aufsehen, der weit beachteten Abrissaktion eines Wiesener Hauses und deren Dokumentation. Die tränenförmigen Abrissbirnen in der Frank-Straße sind heute Teil des Kulturwegs. Seit 2016 ist Sailstorfer auch am Sängerweg mit der Arbeit »Mückenhaus« präsent, einem Straßenlaternen-Schirm aus Alu und Moskitonetz in Form eines Hauses.
Eine weitere neue Station des Skulpturenwegs ist die »Weather Flag« des Göttinger Konzept- und Aktionskünstlers Christian Jankowski vor der alten Dreschhalle. Die Polyester-Flagge zeigt die Abbildung eines Mannes, der sich an zwei Füße klammert. Das Motiv erschließt sich freilich nur, wenn der Wind weht und die Flagge am Mast flattert. Kunst ist eben nicht nach Belieben jederzeit verfügbar. Auch das ist eine Lehre des Kulturwanderwegs, der einen sommerlichen Ausflug in den Spessart lohnt.
Plan mit allen Kunstweg- und Sommerausstellungs-Stationen unter kunstverein-wiesen.de






05.08.2021
mehr unter www.main-echo.de
Schließen Drucken Nach Oben